Wie endlos eine Fahrt doch scheinen konnte, wenn man es nicht erwarten wollte, endlich am Ziel anzukommen. Alle paar Minuten zückte ich mein Handy und starrte auf die Ziffern der Minutenanzeige. Dreiundzwanzig… Achtundzwanzig… Einunddreißig… Sechsunddreißig… Vierzig. Das gab es doch einfach nicht, verging die Zeit tatsächlich so langsam? Dabei waren es eigentlich nur eine Stunde fünfzehn von Tuxtla nach San Cristóbal, und gefühlt hatten sich die knappe Stunde Überfahrt von der Insel, die zweieinhalb zurück zum Flughafen und dann die anderthalb Stunden Flug ab Cancún lange nicht derart hingezogen.
Mein alter Freund José Luis würde mich vom Busbahnhof abholen. Im Grunde war er es, der verantwortlich zeichnete für meinen spontanen Aufbruch nach Mexiko. Ich hatte ihn kontaktiert, um ihm mitzuteilen, dass ich ihn im kommenden Jahr besuchen würde, fiele dann doch mein zehnjähriges „Jubiläum“ an. Warum kommst Du nicht gleich dieses Jahr? Wofür ein Jahr warten, wer weiß, was in der Zwischenzeit passiert. So hatte seine unverblümte Antwort gelautet, denn genau so war sie, die mexikanische Lebensart, die ich so liebte und vermisste. Wir Mexikaner müssen stets davon ausgehen, im nächsten Moment tot zu sein. Wir haben keine Zeit, auf nächstes Jahr zu warten.
José Luis war vor sechs Monaten aus Mexico City nach San Cristóbal zurückgekehrt. Er war inzwischen fünfundsechzig und hatte, als ein Hostel hier zur Übernahme stand, die Gelegenheit beim Schopfe gepackt, ohne lange zu zögern. Etwas abseits des Zentrums lebte er nun in Wohngemeinschaft mit einer französischen Aussteigerin und deren mexikanischem Freund, und wie es das Schicksal offenbar wollte, verbrachte das Paar den Sommer in Europa, sodass das Zimmer frei wäre und ich für günstige Miete einmal mehr José Luis‘ Mitbewohnerin sein würde können. Er hatte mir damals Obdach gegeben, als ich in einer Nacht- und Nebelaktion meinen untreuen mexikanischen Freund verließ. Wenn ich mich nun also tatsächlich dazu durchringen würde können, meine geplante Reise einfach mal um ein ganzes Jahr vorzuverlegen, würden sich unsere Wege erneut kreuzen. Es war schon interessant, dieses Leben, mit seinen dezenten Stupsern, die man im europäischen Hamsterrad gerne konsequent übersah.
Ein paar Monate später waren die Flüge gebucht gewesen, und jetzt saß ich hier im Kleinbus und zählte die Kurven nach San Cristóbal. Die Strecke war neu, die Fahrt von Tuxtla auf der Schnellstraße deutlich kürzer als damals, vor acht Jahren, als ich zum letzten Mal hier gewesen war. Dennoch schien eine halbe Ewigkeit vergangen, als der Bus endlich auf die letzte Anhöhe anstieg und sich im Tal das Lichtermeer der Stadt ausbreitete. Mein Herz begann, sehr, sehr schnell zu schlagen.
Ich kletterte aus dem Bus und hievte meine Reisetasche über die Stufen zum Terminal. Von José Luis war weit und breit keine Spur, obwohl wir pünktlich angekommen waren – auch das gehörte zur mexikanischen Lebensart. Aber es dauerte keine drei Minuten, da bog mein alter Freund um die Ecke und wir begrüßten uns überschwänglich. Er war sichtlich älter geworden, sah müde aus, die vielen Jahre hatten sich als nunmehr schneeweißer Schopf auf sein Haupt gelegt.
Gemeinsam stiegen wir in ein Taxi und fuhren ins Stadtzentrum. San Cristóbal hat sich verändert, Cata. Du wirst staunen.
Und ob ich das würde.
Endlich war ich also wieder hier... Aber warum eigentlich? Warum wieder San Cristóbal?
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