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  • AutorenbildCatalina

San Cristóbal: Haben die gerade geschossen? (2/2)



 

Ja, es ist ein Schuss gewesen. Humberto war an meine Seite getreten, fasste mich an die Schulter, musterte besorgt mein kreidebleiches Gesicht. Die Polizei hat jemanden in Handschellen abgeführt. Ich habe gesehen, wie sie ihn weggebracht haben. Aber da war kein Blut auf der Straße, niemand wurde verletzt. Ich glaube, es war nur ein Warnschuss. Es ist vorbei! Er drückte mich sanft. Alles in Ordnung?


Beileibe, es war mir schon mal besser gegangen. Mein Kopf wusste, dass die Gefahr gebannt war und wir alle im Lokal uns in Sicherheit wiegen konnten. Mein Körper hingegen schien völlig außer Kontrolle geraten, hatte offenbar auf Totstellen geschaltet, sodass nur noch essentiellste Reflexe funktionierten und ich damit regungslos auf meinem Hocker saß und wie belämmert die Tür anstarrte, während es hinter meiner Stirn wild rumorte.


Du bist ja ganz blass. Humberto drückte mir ein Glas in die Hand und ich nahm einen Schluck Bier, immer noch nahezu unfähig, etwas zu entgegnen. Nur ganz allmählich spürte ich, wie das Leben in meine Glieder zurück kroch und sich zaghaft in Armen, Beinen und in meinem Rumpf niederließ. Ich hatte total unter Schock gestanden, war zum ersten Mal einer scheinbar lebensbedrohlichen Situation ausgesetzt gewesen.


Tja. Immerhin wusste ich jetzt, wie mein Körper darauf reagierte. Von den Reaktionstypen „Flucht“, „Angriff“ und „Totstellen“ im akuten Bedrohungsmoment war ich Letzterer. Na, vielen Dank.


Als irgendwann auch ich die anderen Anwesenden stimmungsmäßig eingeholt, mich also einigermaßen gefangen hatte, beschlossen wir, aufzubrechen. In der Gruppe spazierten wir die paar hundert Meter zurück ins Catrina. So vieles ging mir durch den Kopf. Ich dachte daran, wie ich manchmal – viel zu oft eigentlich – nicht ausstehen konnte, was ich morgens im Badezimmerspiegel sah. Dachte an die Kleider, die im vergangenen Herbst zu eng geworden waren, und wie ich meine Oberschenkel gehasst und meinen Frust mit nur noch mehr Pizza gefüttert hatte. Ich dachte an die Männer, die mich betrogen und in tiefe Krisen gestürzt hatten, dachte nach über das Gefühl von Einsamkeit, das mich zusehends beschlichen hatte in meiner Heimatstadt, und über meine Bequemlichkeit, die Situation zu verändern. Ich dachte an meine Familie, an Freundinnen. An all die anderen, die immer irgendwie zufriedener zu sein, mehr Glück zu haben schienen als ich, weil sie schöner waren, erfolgreicher, dünner – und die, wie ich vermutete, letztlich doch allesamt, jeder für sich, mit ihren eigenen Dämonen kämpften.


Ay, no mames, wey!, sagte ich kopfschüttelnd zu Humberto, der still neben mir her schritt. Was für eine Scheiße. Es kann tatsächlich jederzeit vorbei sein. Jeder Moment könnte dein letzter sein! Und dann wir, mit unseren Problemchen, unseren Jammereien. Es war eine echte Offenbarung. Pues, sí, erwiderte der nur schulterzuckend, und lächelte. Das mochte wohl in dem Augenblick wohl so viel heißen wie, tja, was soll ich dazu sagen, oder auch, ja, ihr Europäer, oder auch, willkommen in Mexiko, Cata, hier geht es jeden Tag ums Überleben, du protegiertes Schnitzel. Das war zumindest, wie ich mich augenblicklich fühlte.


Im Catrina angekommen, bestellte ich mir einen doppelten Tequila und kippte mir beide Gläser in Windeseile hinter die Birne. Puh.


Marco, Alina, Humberto und ich unterhielten uns darüber, was vorgefallen war. Ich wohne schon so lange in Deutschland, ich habe das alles irgendwie komplett vergessen. Marco erzählte, wie sehr er das sichere Leben in Europa schätzte. Diese ständige Alarmbereitschaft hier, es ist schon krass.


Eigentlich hatten wir längst zu Abend essen wollen, aber über die ganzen Ereignisse hatten wir komplett auf unseren Hunger vergessen. Stunden später erst, als wir das Catrina verließen, schickte ich den Vorschlag in die Runde, den Burger-Brätern auf der Straße vor dem Madre Tierra noch einen Besuch abzustatten. Und so brachen wir zu viert in Richtung der carritos auf, die dort schon lange Jahre gestanden hatten, bevor Street Food in aller Munde gewesen war.


Wir aßen, scherzten. Die Lebensgeister schienen zurückgekehrt – und dennoch war wohl in jedem von uns ein Funke Unwohlsein zurückgeblieben. Denn am Ende, als die Burger verzehrt und bezahlt waren, waren wir uns einig. Alle vier würden wir ein Taxi zu Humberto nehmen und gemeinsam dort übernachten. Heute möchte ich nicht alleine schlafen.


Ich lieh mir von Humberto ein T-Shirt und eine Jogginghose, schmunzelte darüber, dass Letztere mir zu eng war, präsentierte mich ihm in dieser meiner Übergangskluft, witzelte darüber, wie sexy ich mich fühlte damit, wie mein Hintern seine Hose ausfüllte, brachte uns beide zum Lachen. Legte mich neben ihn. Und eine ganze Weile lagen wir noch wach, plauderten, und er strich mir übers Haar und fragte mich, ob ich das mochte.


Was für eine Nacht. Was für ein Leben, dieses eine, das uns geschenkt worden war. Und auch, wenn ich die ganzen Gedanken, die völlig wildgeworden in meinem Kopf Ringelreih tanzten, erst würde sortieren müssen – schon wieder hatte mich dieses Mexiko etwas unglaublich Kostbares gelehrt. Gut möglich sogar, dachte ich bei mir, dass am Ende dies die wertvollste Erkenntnis meines Lebens sein würde.



 
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