Unvermittelt fuhr der Kopf meiner Mutter von der Rückbank des Mietwagens hoch, die Augen vor Schreck weit aufgerissen, und ich konnte ihr Herz förmlich bis nach vorne auf dem Beifahrersitz schlagen hören. Haben sie jetzt geschossen? Mein Vater und ich konnten uns ein Lachen nicht verkneifen.
Es war August des Jahres 2010. Nach sechs Monaten Aufenthalt hatten meine Eltern den spontanen Entschluss gefasst, die mittlere Tochter in Mexiko zu besuchen, und auf der Autobahn irgendwo zwischen Cancún und Mérida war vor uns der hintere Reifen eines Lastwagens geplatzt. Mama, die einige Tage zuvor etwas Unbekömmliches zu essen erwischt hatte und seither von der Rache Montezumas geplagt worden war, hatte während der Fahrt ein Nickerchen gemacht. Nein, niemand hat geschossen.
Ich hatte diesen ersten Gedankenreflex meiner Mutter für vollkommen überzogen gehalten. Hatte die kontroversiellen Gefahren des Landes während der annähernd zwei Jahre, die ich zu Beginn meiner Zwanziger hier verbrachte, maximal rational erfasst, aber zu keinem Zeitpunkt gespürt.
Bis heute.
Mein alter, neuer Freund Humberto – beim überraschenden Wiedersehen in den Straßen des Zentrums hatte ich ihn zunächst nicht wiedererkannt – hatte Marco, dessen Verlobte Alina und mich für den späteren Abend ins Puro Mexicano, eine kleine Bar in einer Seitenstraße des andador, der belebten Fußgängerzone San Cristóbals, eingeladen, wo er zusammen mit einem Musikerkollegen Son Jarocho-Lieder spielen würde.
Marco, Alina und ich trafen uns einige Stunden vorher im La Catrina. Ersterer würde dort im Rahmen einer öffentlichen Lesung den neuesten seiner drei Lyrikbände präsentieren, und gespannt lauschte ich ihm, nachdem wir uns mit ein paar Bieren gemeinsam auf den Abend eingestimmt hatten, wie er bedächtig seine Verse vortrug, Zeile für Zeile und in derart anspruchsvollem Spanisch, dass ich kein Wort verstand und trotzdem platzte vor Stolz.
In kleiner Runde feierten wir Marcos Erfolg, stießen an, ließen uns Ausgaben persönlich signieren und scherzten fröhlich darüber, wie viele Millionen das Autogramm in ein paar Jahren wert sein würde, bevor wir uns allmählich auf den Weg ins Puro Mexicano machten, das ein paar Hundert Meter entfernt um die Ecke lag.
Das Duo hatte sein erstes Set bereits gespielt. Humberto begrüßte uns überschwänglich, freute sich sichtlich, dass wir tatsächlich aufgekreuzt waren. Wir bestellten eine caguama, eine Literflasche Bier, wie sie hier seit jeher traditionell in der Gruppe miteinander geteilt wurde, setzten uns, schäkerten und lachten, genossen allesamt sichtlich die ausgelassene Stimmung.
Das Puro Mexicano war eine winzige Bar, in die man von der Straße über ein paar Stufen und durch eine dunkle, offene Flügeltür gelangte. Über die gesamte Länge der linken Lokalhälfte erstreckte sich eine Tafel, an der etwa zwanzig Leute Platz genommen hatten, gegenüber war direkt an der Wand eine hohe Theke mit einigen Barhockern angebracht, und am hinteren Ende des langgezogenen Raumes befand sich die Ausschank.
Wir klatschten im Rhythmus der beschwingten Fandanguitos, ein Bekannter von früher forderte mich zum Tanz auf, eine Gruppe junger Mexikanerinnen sang ausgelassen die bekannten Lieder mit, und als auch das zweite Set zu Ende gespielt und den vermehrten, lautstarken Forderungen nach Zugaben artig nachgekommen worden war, gesellte sich Humberto zu uns und stieg in die Unterhaltung ein.
Plötzlich, vollkommen jäh und unerwartet, ein lauter Knall.
In der Bar wurde es mucksmäuschenstill, Gespräche und Musik verstummten schlagartig, Schultern zuckten zusammen, die Blicke sämtlicher Anwesenden richteten sich blitzschnell in Richtung der offenen Flügeltür und dann wieder einander zu, fragend. Die Stimmung war derart angespannt, dass man die brodelnde Luft mit einem Messer hätte zerschneiden können.
Eine Mexikanerin, die auf dem Hocker neben mir saß, sah mich mit entsetztem Ausdruck an. War das gerade ein Schuss? Ich zuckte hilflos mit den Schultern. In der Stadt explodierte ständig irgendetwas, Tag und Nacht. Die Mexikaner liebten ihre Feuerwerke und Knallkörper, jeden Tag gab es einen neuen Heiligen zu feiern und lautstark zu beschießen. Aber dieses Mal war es anders gewesen, und es gab für mich nicht den geringsten Zweifel. Ja, nebenan war ein Schuss gefallen.
Auf die erste Schockstarre folgte geschwind Aufruhr. Alle redeten wild durcheinander, begleitet von aufgeschreckten, ruckartigen Gesten, einige schienen sich schnell wieder beruhigt zu haben, andere wiederum hatten sichtlich Angst. Ich beobachtete das wilde Treiben wie in Trance, konnte mich kaum bewegen, spürte nur, wie sich allmählich Übelkeit in meinem Magen breitmachte. Drei junge Männer, unter ihnen Humberto, traten auf die Straße und schauten sich vorsichtig um. Das Licht blinkender Polizeisirenen durchzuckte in rhythmisch wechselndem Rot-Blau den kleinen Raum. Ich saß regungslos auf meinem Hocker, gelähmt, starrte ins Leere, angespannt, und wartete.
Was war nun tatsächlich passiert? Hier weiterlesen
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